Das Yin und Yang moderner Führungskräfte

07. März 2024

Strategie vs. Finance

In der Wirtschaftswelt von heute scheinen Strategie und Finance oft entgegengesetzte Ziele zu verfolgen. Das ist nicht nur der Fall, wenn CEOs und CFOs im Vorstandsmeeting ihre unterschiedlichen Vorstellungen in puncto kurzfristige finanzielle Rentabilität und langfristige Investitionen unter einen Hut bringen müssen, sondern zeigt sich auch in der tiefen Kluft zwischen den entsprechenden Disziplinen in Forschung und Lehre an Universitäten. Jakob Müllner, akademischer Leiter des Executive MBA Finance der WU Executive Academy, geht den Ursachen dieses wechselseitigen Desinteresses auf den Grund und erklärt, wie Führungskräfte diese beiden gegensätzlichen Kräfte im Arbeitsalltag optimal aufeinander abstimmen können.

Die Bereiche Strategie und Finance sollten von Führungskräften optimal aufeinander abgestimmt sein, im Gleichgewicht wie Yin und Yang. Bild: shutterstock, Kathriba
Die Bereiche Strategie und Finance sollten von Führungskräften optimal aufeinander abgestimmt sein, im Gleichgewicht wie Yin und Yang. Bild: shutterstock, Kathriba

„Es ist spannend zu beobachten, wie wenig interdisziplinärer Austausch zwischen den Top-Forscher*innen in den Bereichen Finance und Strategie stattfindet. Auf der ganzen Welt sind universitäre Institute und wissenschaftliche Konferenzen entweder dem einen oder dem anderen Bereich zugeordnet und auch zwischen den jeweiligen Curricula gibt es keinerlei inhaltliche Verknüpfungen, sodass Lehrveranstaltungen zu Finanzstrategie oder strategischem Finanzwesen de facto nicht existieren. Aber warum ist das so? Und noch viel wichtiger: Was können Führungskräfte daraus lernen?“, umreißt Jakob Müllner, Professor am Institute for International Business der WU, die Ausgangslage seiner Überlegungen.

Finance vs. Strategie: warum ein Blick in die Geschichte hilft

In ihrer Entwicklung verfolgten die Bereiche Finance und Strategie von Anfang an unterschiedliche Zielsetzungen und waren zudem von entgegengesetzten Weltanschauungen geprägt. Der Bereich Finance war insbesondere darauf ausgerichtet, zu verstehen, wie „normale“ Unternehmen in „funktionierenden Märkten“ operieren, und dabei grundlegende Mechanismen zu identifizieren, die auf alle Unternehmen anwendbar wären. Um derartige Verallgemeinerungen aufstellen zu können, stützte sich die Theorienbildung im Bereich Finance auf Annahmen darüber, was einen Markt effizient macht. So konnten Forscher*innen unternehmensinterne Strukturen durchleuchten und dabei die verlässlichsten und wirkungsvollsten Mechanismen beschreiben, die Unternehmen profitabel machen.

Jakob Müllner portrait

Jakob Müllner

  • Akademischer Leiter des Executive MBA Finance

Wenn man eine Analogie zur Medizin ziehen möchte, konzentriert sich Finance auf die Physiologie von Unternehmen. So wie beim menschlichen Körper wird erforscht, welche Prozesse unter normalen Bedingungen ablaufen.

Im Gegensatz dazu befasste sich der Bereich Strategie immer zuallererst mit den Sonderfällen, den Ausnahmen zur Regel und den Spitzenreiter*innen unter den Unternehmen. Das Augenmerk war hier weniger darauf gerichtet, wie „normale“ Unternehmen agieren, sondern was manche erfolgreicher als andere macht. „Wenn wir wieder den Vergleich mit der Medizin bemühen, ist Strategie die klinische Medizin, der es nicht um ein Verständnis des Körpers (beziehungsweise des Unternehmens) im Allgemeinen geht, sondern darum, die Ausnahmen zu beschreiben - wie etwa Krankheiten“, ergänzt Müllner.

Die Spielregeln durchschauen

Die Auseinandersetzung mit Ausnahmen erfordert keine Annahmen über optimale Marktmechanismen (Markteffizienz). Immerhin sind es häufig gerade kleine Verwerfungen, die einen Wettbewerbsvorteil entstehen lassen. So agieren beispielsweise nicht alle Investor*innen diversifiziert und sind auch nicht beliebig austauschbar. Einige strategische Investor*innen bringen Vorteile mit sich, die im Capital Asset Pricing Model nicht darstellbar sind. Auch Unternehmen sind oft nicht austauschbar, da sie über einzigartige Ressourcen mit strategischem Wert verfügen. Dies gilt gleichermaßen auf einer übergeordneten Marktebene. Märkte sind bei der Einpreisung von sozialen und Umweltauswirkungen nicht effizient. Diese Verfehlungen der Märkte haben sich in jüngster Zeit unter dem Schlagwort ESG als strategische Chance erwiesen. Der Bereich Strategie punktet also bei der Erklärung von Abweichungen von der Norm, ist aber notorisch unzuverlässig, wenn es um generalisierbare Empfehlungen geht. Denn: Des einen Unternehmens Erfolgsstrategie ist des anderen Unternehmens Bauchlandung.

Strategie ist nicht generalisierbar – zielgerichtet für das eine Unternehmen, bedeutet nicht, dass auch ein anderes mit derselben Strategie ans Ziel kommt. Bild: shutterstock, Fida Olga
Strategie ist nicht generalisierbar – zielgerichtet für das eine Unternehmen, bedeutet nicht, dass auch ein anderes mit derselben Strategie ans Ziel kommt. Bild: shutterstock, Fida Olga

Wie Yin und Yang: das Beste aus zwei Welten vereinen

Was bedeutet dies nun für Führungskräfte, die heute in einem immer komplexeren und unsichereren Umfeld agieren müssen? So wie Ärzt*innen die Funktionsweise des menschlichen Körpers und Abweichungen davon eingehend verstehen müssen, ist es auch die Aufgabe von CEOs, die grundlegenden Wirkungsweisen aus dem Bereich Finance und den Ausnahmefokus des Bereichs Strategie zu verstehen. Auch wenn Strategic Foresight und Financial Due Diligence in der Theorie wie Yin und Yang entgegengesetzte Pole sind, muss ein Gleichgewicht hergestellt werden. Wenn es gelingt, die Perspektiven beider Bereiche zu berücksichtigen, kann dies Entscheidungsfindungsprozesse bereichern, wofür es aber auch einer adäquaten Einschätzung der Aufgabenstellung bedarf. Was man sich über den Nobelpreisträger und Begründer der Portfoliotheorie Harry Markowitz erzählt, illustriert dies auf eindrückliche Weise. Da er um die Limitationen der von ihm entwickelten Formel zur Verbesserung von Finanzportfolios (in effizienten Märkten) in einem echten Markt mit veränderlichen Parametern wusste, soll er sich für seine eigenen Investitionsentscheidungen einer viel simpleren Heuristik bedient haben. Harry Markowitz, der wohl zu Recht als Pionier der quantitativen Methoden bezeichnet wird, erkannte also die eingeschränkten Möglichkeiten von Finanzmodellen und ließ aus diesem Grund strategische Aspekte in seine Entscheidungsfindung einfließen.

Die Lösung für das Dilemma

Dogmatische Herangehensweisen und unüberwindbar scheinende ideologische Grenzen bergen die Gefahr, dass sich Unternehmen in einem immer dynamischer werdenden Umfeld in einem der beiden folgenden Szenarien wiederfinden.

  • Erste Möglichkeit: Eine reine Ausrichtung auf finanzielle Ziele führt zum Versäumnis, wichtige strategische Investitionen zu tätigen, wodurch das Unternehmen schlussendlich im Wettbewerb zurückfällt.
  • Zweite Möglichkeit: Eine zu sorglose Einstellung hinsichtlich der finanziellen Gesundheit des Unternehmens führt zu sogenannten Kosten aufgrund finanzieller Anspannung (engl. costs of financial distress), wenn der Markt aufgrund äußerer Umstände immer häufiger aufgewühlt wird.

Hier sind Manager*innen gutberaten, den Wert der beiden Perspektiven in unterschiedlichen Kontexten zu kennen, um sich die jeweiligen Stärken zunutze machen zu können. Die Frage, die bleibt: Wie können Führungskräfte diese widersprüchlichen Stoßrichtungen austarieren?

Strategie vs. Finance – es muss die Balance gefunden werden, wenn ein Bereich auf der Strecke bleibt, kann das schlimme Folgen für das Unternehmen haben. Bild: shutterstock, Anatoli Styf
Strategie vs. Finance – es muss die Balance gefunden werden, wenn ein Bereich auf der Strecke bleibt, kann das schlimme Folgen für das Unternehmen haben. Bild: shutterstock, Anatoli Styf

Die folgenden praktischen Ratschläge sollen dabei helfen:

  • Probabilistisch statt deterministisch denken

Finanzexpert*innen kennen sich gut mit Zahlen aus. Doch auch wenn jede einzelne Rechnung bis auf die letzte Kommastelle stimmt, basieren Finanzmodelle letztendlich auf vielen Annahmen. Diese gehen immer von einem Status quo aus und können die dynamische Entwicklung der Zukunft nicht abbilden. Aus diesem Grund sollten Finanzindikatoren wie der Kapitalwert nicht als verlässliche Aussagen über die Zukunft, sondern als Schätzungen, was ceteris paribus („unter sonst gleichen Bedingungen“) mit einer nach links und rechts ausschlagenden Wahrscheinlichkeitsverteilung eintreten kann, gewertet werden.

  • Zuerst erfassen, welche Art von Entscheidung gefragt ist

Vor einer Entscheidung sollten Führungskräfte stets bewerten, welche Art von Entscheidung es zu treffen gilt und wie es um die Effizienz des Marktes steht. Für effiziente Märkte sind nämlich eine finanzbasierte Metrik und Logik häufig verlässliche Instrumente. Wenn Entscheidungen einzigartige, undurchsichtige oder kontextabhängige Märkte oder Vermögenswerte betreffen, können strategische Ansätze treffgenauer sein. Die Anwendung von Finanzmetriken (wie dem Kapitalwert) bei solchen Entscheidungen kann der entscheidenden Person den Blick auf strategische Auswirkungen verstellen. Es gibt zwar Methoden zur Berücksichtigung des strategischen Wertes bei der Investitionsbewertung (z. B. Realoptionen oder Simulationen), doch auch diese Ansätze stoßen an ihre jeweiligen Grenzen und bedürfen viel Expertise bei der strategischen Validierung.

  • Prognosen (den eigenen wie auch denen von Expert*innen) stets misstrauen

Dasselbe gilt für Prognosen. Sie sind lediglich mathematische Voraussagen basierend auf dem gegenwärtig bekannten Status quo und können einem dynamischen Umfeld daher nie gerecht werden. Jegliche Bewertungen und Investitionsentscheidungen sollten vor diesem Hintergrund betrachtet werden.

  • Stets die Sichtweise von Insider*innen und Outsider*innen berücksichtigen

Den Bereichen Finance und Strategie liegen entgegengesetzte Weltanschauungen zugrunde, was verzerrte Einschätzungen zur Folge haben kann. Wenn Führungskräfte sowohl interne als auch externe Perspektiven berücksichtigen, kann das manchen Vorurteilen entgegenwirken. Wenn beispielsweise eine Investition bewertet werden soll, ist eine Insider*innenperspektive, die Kosten, Einnahmen und Risiken des Projekts berücksichtigt, unabdingbar; dieser sollte jedoch immer auch ein Blick von außen zur Seite gestellt werden, um aus Erfahrungswerten aus vergleichbaren Projekten profitieren zu können. Grundsätzlich sollten sich Entscheidungen immer sowohl auf interne (finanzbezogene) Details als auch auf externe strategische Vergleiche stützen.

  • Notfallpläne bereithalten

Wenn für die Zukunft nur Wahrscheinlichkeiten vorausgesagt werden können, ist es zwingend erforderlich, dass Führungskräfte entsprechende Notfallplänen für negative Entwicklungen in der Lade haben. Kommt es dann doch besser als gedacht, kann die Rendite maximiert werden (in der Finanztheorie ist dies auch als Realoption bekannt). Im Idealfall verfügen Unternehmen über ausreichend operative und finanzielle Flexibilität, die den Wert des Betriebs insbesondere in unsicheren Zeiten steigert.

Fazit

Wenn Führungskräfte diese einfachen Grundregeln befolgen, können aus CEOs deutlich bessere Finanzexpert*innen und aus CFOs erfahrene strategische Planer*innen werden.

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