Leadership-Kompass: Auf der Suche nach dem Ikigai

13. November 2024

Lehren aus dem japanischen Lebenskonzept

In ungewissen und unvorhersehbaren Zeiten ist es vor allem der Sinn des eigenen Handelns, der uns Kraft, Fokus und Orientierung gibt. Was für das Mensch-Sein im Allgemeinen gilt, gilt insbesondere auch für die Karriere, für Self-Leadership und für das Führen von Teams. Wie das japanische Lebenskonzept Ikigai zu mehr Sinn (aber auch mehr Erfolg im Job) verhilft und welche anderen Leadership-Lektionen sich aus Ikigai ableiten lassen, analysieren Bodo B. Schlegelmilch, Dekan der WU Executive Academy, und Ikigai-Expertin und MBA-Programm Managerin Klara Palucki.

Grafische Darstellung des Ikigai im Venn Diagramm
Ikigai, oder: das, wofür es sich zu leben lohnt. Bild: shutterstock, Piscine26

Die moderne Arbeitswelt, das oft zitierte BANI-Modell, bringt für Führungskräfte neue Herausforderungen mit sich, die über die bisherige Volatilität von VUCA hinausgehen. Führungskräfte müssen Strategien entwickeln, um mit der Brüchigkeit („brittleness“), der Verunsicherung („anxiousness“), der Nicht-Linearität („non-linear“) und der Unverständlichkeit („incomprehensible“) unserer neuen Realität umzugehen. Wie können Führungskräfte inmitten einer solch komplexen und unvorhersehbaren Welt Orientierung schaffen und zugleich Sinn stiften? 

BANI-Welt: Leben in Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit 

„Unsere Gesellschaft wird immer schnelllebiger und unsicherer, und es ist nicht nur schwer abzusehen, was morgen passieren wird, sondern aufgrund der Komplexität der Ereignisse nahezu unmöglich, Ursache und Wirkung noch klar zu differenzieren. Gerade Ereignisse wie die Corona-Pandemie oder der Ukraine-Konflikt haben uns gezeigt, dass das Leben weniger planbar ist als je zuvor“, sagt Bodo Schlegelmilch, Dekan der WU Executive Academy.  

In einer solchen Welt geht es nicht mehr nur um Volatilität, sondern um eine plötzlich auftretende Brüchigkeit; chaotische Zustände, die selbst stabile Systeme plötzlich und fundamental erschüttern können. Diese Unsicherheit kann bei Führungskräften zu einer Art „Angststarre“ führen, die durch die Fülle an Information und Desinformation sowie einem stetig steigenden Workload noch weiter verstärkt wird. 

Sinnorientiertes Handeln in turbulenten Zeiten 

Ein wertvoller Ansatz, um der Komplexität der BANI-Welt zu begegnen, findet sich in der japanischen Lebensphilosophie des Ikigai. Aber was bedeutet eigentlich Ikigai?  

‚Iki‘ steht für das Leben, während ‚kai‘ Sinn, Wirkung oder Nutzen bedeutet. Zusammengefügt lässt sich Ikigai als ‚Lebenssinn‘ oder ‚das, wofür es sich zu leben lohnt‘ übersetzen. Diese praktische Philosophie lädt dazu ein, Sinn nicht nur in großen Zielen, sondern auch in kleinen Handlungen und Momenten des Alltags zu entdecken und zu erkennen, was einen jeden Tag aufs Neue motiviert. 

Sinnfindung als Schlüssel zur beruflichen Erfüllung 

Klara Palucki, Programm Managerin des Executive MBA Health Care Management an der WU Executive Academy, hat sich einst selbst auf die Suche nach ihrem Ikigai begeben. „Ich habe spät studiert. Mit 41 Jahren habe ich meinen Bachelor in Unternehmensführung und Personalmanagement gemacht“. Als sie nach dem Abschluss nicht sofort einen Job fand, „habe ich dieses Buch in meinem Bücherregal wiederentdeckt.“ Gemeint ist eines von vielen Büchern, die Leser*innen zum Ikigai führen wollen. Sie beantwortete die vier Fragen des Ikigai für sich selbst und hat danach - vor ihrer neuen Aufgabe an der WU Executive Academy – mehrere Jahre Frauen auf ihrem Weg zu neuen Jobs oder in anderen Veränderungsprozessen gecoacht, viele unter ihnen auch Führungskräfte. 

Portrait Klara Palucki

Klara Palucki

  • Programm Managerin des Executive MBA Health Care Management

Ich habe Frauen unterstützt, ihre Stärken zu erkennen und ihre beruflichen und persönlichen Ziele klarer zu definieren. Viele waren frustriert, weil ihnen Orientierung fehlte, aber durch Ikigai haben sie gelernt, wieder an ihre Fähigkeiten zu glauben und eine Vision und Ziele für ihre berufliche (und private) Zukunft zu definieren.

Das Ikigai-Prinzip: Vier Fragen auf dem Weg zum persönlichen Lebenssinn

Ikigai basiert auf vier zentralen Fragen, die im sogenannten Venn-Diagramm (siehe oben) visualisiert werden: 

  1.  Was liebst du? 

  2. Worin bist du gut?

  3. Was braucht die Welt? 

  4. Wofür kannst du bezahlt werden?  

Der Schnittpunkt (Ikigai) dieser vier Dimensionen ist der persönliche Lebenssinn. Laut Klara Palucki bietet Ikigai gerade Führungskräften im Job eine wunderbare Möglichkeit, nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Teams einen sinnorientierten, nachhaltigen Weg einzuschlagen.

Ikigai im Job leben: Die „sinnvolle“ Antwort auf BANI

In der unvorhersehbaren BANI-Arbeitswelt bietet Ikigai Führungskräften eine Art Kompass. Ikigai hilft, den Fokus auf das Wesentliche zu richten und im Job Entscheidungen wertorientiert zu treffen. 

„In einer turbulenten Welt ist es entscheidend, sich seiner Werte klar zu werden und danach zu handeln“, so Bodo Schlegelmilch. „Ikigai hilft dabei, die innere Sicherheit zu finden, die man braucht, um auch in unsicheren Zeiten Kurs zu halten.“ Klara Palucki ergänzt: „Wenn ich weiß, wohin ich gehen will, dann bin ich bereits auf dem Weg zur Selbstführung. Diese persönliche Klarheit ist eine Führungskompetenz, die sich positiv auf das gesamte Team auswirkt.“

Kompass der auf Answers zeigt, als Symbol für die Wegweiser Funktion des Ikigai
Ikigai als eine Art Kompass um durch persönliche Klarheit, bessere Entscheidungen zu treffen. Bild: shutterstock, Olivier Le Moal

Erfolgreiche Führung: Von Self-Leadership zu Ikigai  

Führungskräfte, die den Sinn in ihrem Leadership erkannt haben, sind authentischer und inspirieren ihre Teams dazu, ebenfalls einen sinnorientierten Weg einzuschlagen. Sie fördern ein Arbeitsumfeld, in dem die individuellen Stärken und Interessen der Mitarbeitenden berücksichtigt werden. Job Crafting, also die aktive Gestaltung des eigenen Arbeitsumfelds und der Aufgaben, spielt dabei eine zentrale Rolle. Klara Palucki erklärt: „Wenn ich in meinem Job nicht glücklich bin, kann ich mir in kleinen Schritten ansehen, welche Aufgaben mir liegen und welche weniger. Dadurch lässt sich ein Arbeitsumfeld schaffen, das besser zu meinen eigenen Bedürfnissen passt. Oft hilft es auch, genauer hinzuschauen, wo der Sinn abhandengekommen ist. Indem wir Aufgaben im Sinne von Job Crafting shiften und umverteilen oder neue Projekte initiieren, können wir Sinn (aufs Neue) entdecken.“  

Das Ikigai eines Unternehmens durch klare Fragen entdecken 

Aber Führungskräfte sollten idealerweise nicht nur ihr eigenes Ikigai kennen, sondern auch das ihres Unternehmens. Denn: Dieselben Fragen, die sich jeder am Weg zum eigenen Ikigai stellen muss, können Führungskräfte auch für ihr Unternehmen stellen. Firmen müssen etwas produzieren, für das sie Geld verlangen können und idealerweise ist das Produkt auch nützlich (Dimensionen drei und vier). Das geht nur, wenn die Angestellten des Unternehmens ihren Job gut machen (Dimension zwei). Und damit die HR-Kosten nicht explodieren, sollten Mitarbeitende ihre Arbeit zumindest so weit mögen, dass sie nicht nach dem Probemonat wieder kündigen (Dimension eins). Bodo Schlegelmilch erklärt: „Ikigai ist wie ein Rezeptbuch, um den Purpose eines Unternehmens zu finden.“ 

Sinnorientierte Führung: Reflexion und Weiterbildung als Grundlage

„Letztendlich geht es aber darum“, so Bodo B. Schlegelmilch, „dass man Freude an dem hat, was man tut. Führungskräfte sollten sich fragen, warum sie das tun, was sie tun, und ob es ihnen auch tatsächlich Erfüllung bringt.“ In diesem Kontext kann Weiterbildung eine wertvolle Chance sein, um neue Sinnhaftigkeit in die eigene berufliche Laufbahn zu integrieren. 

Bodo B. Schlegelmilch, Ph.D., D.Litt., Ph.D. (hon.) Portrait

Bodo B. Schlegelmilch, Ph.D., D.Litt., Ph.D. (hon.)

  • Dekan der WU Executive Academy

Diese Selbstreflexion fördert nicht nur die persönliche Sinnfindung, sondern stärkt auch die Fähigkeit, Mitarbeiter*innen sinnorientiert zu führen und sie mit Begeisterung für ihre Aufgaben zu motivieren.

Klara Palucki lässt die Frage nach dem Sinn sogar in die Beratung ihrer MBA-Interessent*innen einfließen: „Im persönlichen Beratungsgespräch hinterfrage ich gemeinsam mit ihnen ihre intrinsiche Motivation für die Weiterbildung, wenn der Weg noch diffus ist und vielleicht nach äußeren Maßstäben nicht linear zur bisherigen Laufbahn passt. Und sobald diese Motivation klar ist, fällt die Entscheidung für die Weiterbildung bewusster.“

Fazit: Ikigai als Schlüssel zu nachhaltigem Leadership in der BANI-Welt?

Die BANI-Welt stellt Führungskräfte vor immense Herausforderungen, doch sie bietet auch Chancen, wenn sie bereit sind, sich auf neue Wege einzulassen. Ikigai als Instrument der Sinnfindung hilft dabei, die eigenen Werte und Ziele klar zu definieren und diese in Einklang mit der beruflichen Tätigkeit und dem eigenen Führungsstil zu bringen. Führungskräfte, die sich ihrer eigenen Motivation bewusst sind, können ihre Teams besser motivieren und gemeinsam eine sinnstiftende Arbeitskultur schaffen – die nachhaltig auf den Unternehmenserfolg einzahlt.

Klara Palucki bringt es abschließend auf den Punkt: „Es macht alles mehr Sinn, wenn Sinn dahintersteckt. Menschen wollen zunehmend Teil von etwas Größerem sein und bleiben eher im Unternehmen, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre Arbeit einen (guten) Zweck erfüllt.“ In einer unsicheren und komplexen Welt wird Sinnorientierung daher vom Trend zur Notwendigkeit für modernes, nachhaltiges Leadership. 

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