Digitaler Humanismus: Für eine Technologie, die dem Menschen dient

31. August 2023

Eine Chance für Europa

Zwischen amerikanischer ,The-winner-takes-it-all-Mentalität‘ und chinesischem Überwachungsstaat: Nicht nur in Europa, auch in Österreich stehen die Zeichen seit kurzem ganz auf Digitaler Humanismus. Warum wir Europäer*innen die Chance nutzen sollten, eine Vorreiterrolle beim Einsatz neuer Technologien zum Nutzen des Menschen (und nicht umgekehrt) einzunehmen und welchen Beitrag die WU Executive Academy in dieser Hinsicht leisten kann, erklären Barbara Stöttinger, Dekanin der WU Executive Academy, und der Digitalökonom Martin Giesswein.

Ein menschlicher Kopf aus digitalen Punkten und Polygonen
Digitaler Humanismus als Vorreiterrolle in der Nutzung neuer Technologien – kann Europa Vorbild sein? Foto © shutterstock – Irina Shi

Die Technologisierung und die damit einhergehende Digitalisierung ist aus Wirtschaft und Gesellschaft heute nicht mehr wegzudenken. Allein in Europa haben die Investitionen in digitale Geschäftsbereiche dank der Pandemie zugenommen, wie der Bericht der Europäischen Investitionsbank zeigt. Demnach investierten in der Europäischen Union 53 Prozent der Unternehmen, die bereits moderne Digitaltechnologien eingeführt hatten, während der Pandemie weiter in die Digitalisierung. 34 Prozent der EU-Firmen, die vor der Pandemie noch keinerlei digitale Technologien nutzten, haben inzwischen begonnen, in die Digitalisierung zu investieren (siehe EIB-Umfrage 2022).

Dieselbe Digitalisierung – drei verschiedene Herangehensweisen

„Der ,Überwachungsstaat‘ China nutzt digitale Technologien seit geraumer Zeit gezielt für soziale Kontrolle und Zensur. In den USA herrscht eine ,The winner takes it all‘-Mentalität vor, die Business-Interessen über die Technologisierung vor menschliche Bedürfnisse und Grundrechte stellt“, sagt Barbara Stöttinger, Dekanin der WU Executive Academy.

„In Europa dagegen beobachten wir den Aufstieg eines Digitalen Humanismus, der an die europäische Tradition der humanistischen Aufklärung anknüpft: die Technologie soll dem Menschen dienen und nicht der Mensch der Technologie“, sagt Stöttinger.

Wiener Tradition des digitalen Humanismus

Der Digitalexperte Martin Giesswein sieht sogar eine „Wiener Tradition des digitalen Humanismus“ aufkeimen. Die Stadt Wien habe sich dem Thema mit einem eigenen Förderwettbewerb verschrieben. Auch die WU Executive Academy räumt den Prinzipien des digitalen Humanismus in ihrer Executive Education Raum ein, um Führungskräfte für das Thema zu sensibilisieren und hier Bewusstsein für einen ethischen Umgang mit der Digitalisierung zu schaffen.

Barbara Stöttinger Portrait

Barbara Stöttinger

  • Dekanin der WU Executive Academy

Wir wollen den digitalen Humanismus nicht nur aus theoretisch-philosophischer Sicht vorantreiben und thematisieren, sondern auch praxisnah in die Unternehmen bringen. Deshalb erarbeiten wir gerade im Rahmen eines gefördertes Projekt der Wirtschaftsagentur Wien in Zusammenarbeit mit Goodshares ein Konzept einer digitalen Transformation, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt – zum Wohle des Einzelnen, aber auch des Unternehmens

Diese Faktoren bzw. Dimensionen unternehmerischen Handelns fließen in den digitalen Humanismus ein:

Datenschutz und Überwachung

In Europa ist das Thema Datenschutz mit der Datenschutzgrundverordnung 2018 auf die Agenda aller europäischen Unternehmen gerückt. „Privat sind wir hierzulande sehr freizügig mit unseren eigenen Daten. Andererseits beobachte ich in europäischen Unternehmen eine überschießende Datenmoral – nicht zuletzt aufgrund der Datenschutzgrundverordnung“, sagt Martin Giesswein. Der Digitalexperte warnt aber auch vor einem Ausverkauf der Daten an Tech-Oligopole. Hier bestehe die Gefahr, „dass die europäischen Unternehmen im Vergleich zu den im Umgang mit Daten deutlich leichtsinnigeren US-amerikanischen und chinesischen Konzernen ins Hintertreffen geraten.“ Auch sei es wichtig, „die Datensouveränität der lokalen Personen und Unternehmen zu gewährleisten, die Klein- und Mittleren Unternehmen an den Datenströmen der Konsument*innen partizipieren zu lassen und sie nicht den globalen Tech-Giganten zu überlassen.“ Gleichzeitig betont auch Barbara Stöttinger: „Es ist natürlich wichtig, die personenbezogenen Daten der Konsument*innen zu schützen.“ Dabei könne digitaler Humanismus sogar einen Wettbewerbsvorteil bieten: „Hier benötigen wir noch viel gemeinsame Anstrengung der verschiedensten Stakeholder*innen aus Politik und Wirtschaft, um einen Rahmen zu schaffen, der Konsument*innen und Arbeitnehmer*innen schützt und gleichzeitig die Unternehmen mit innovativen und ethischen Geschäftsmodellen – wie etwa über das Web3 und die Blockchain – voranbringt.“

Digitale Geschäftsmodelle

Immer mehr Startups und Unternehmen prüfen ihr digitalen Business-Modelle anhand der Environmental, Social & Governmental“ (ESG) Faktoren, die von den Vereinten Nationen definiert wurden. ESG-Rankings sollen die Geschäftsaktivitäten in Richtung sozialer, ökologischer, und werteorientierter Nachhaltigkeit möglichst transparent für Investor*innen darstellen. Auch müssten Startups und KMU generell stärker auf digitale Geschäftsmodelle setzen. „Die Oligopol-Bildung weniger Tech-Giganten wie Google oder Meta ist nicht dienlich für eine breite wirtschaftliche Prosperität“, sagt Martin Giesswein.

Portrait Martin Giesswein

Martin Giesswein

  • Digitalexperte

Gerade hier können ethische Geschäftsmodelle den Unterschied machen und einen Wettbewerbsvorteil bringen – etwa wenn Daten DSGVO-konform gespeichert werden, über die Blockchain dezentral und sicher Daten transferiert werden oder Software als Open Source von vielen weiterentwickelt werden kann.

Digitale Tools dienen dem Menschen

„Wir dürfen nicht in die Falle tappen, machine-savvy people auszubilden, also Menschen bildungstechnisch zu optimieren, die genau wissen, wie sie die neuesten Technologien bedienen. Sondern wir brauchen Maschinen, die den Menschen fair und optimal unterstützen“, sagt Barbara Stöttinger. Doch auch das beginne beim Menschen: „Künstliche Intelligenz kann sich diskriminierend auswirken, wenn sie mit Daten gefüttert wird, die gebiased sind“, so Stöttinger.

Ein Beispiel für diese Algorithmischen Biases: Die MIT-Wissenschaftlerinnen Joy Buolamwini und Timnit Gebru fanden heraus, dass Gesichtserkennungs-Programme von Konzernen wie IBM oder Microsoft und anderen schwarze Frauen viel schlechter identifizieren kann als weiße Männer. Ein anderes Beispiel wäre ein Algorithmus, der die besten Bewerber*innen für ein Stelleninserat diskriminierend auswählt, weil er beispielsweise gelernt hat, dass weiße Männer um die 35 am häufigsten in Führungspositionen sind.

Viele holographische Nullen und Einsen
Algorithmen sind heutzutage oftmals durch die Daten, von denen sie lernen, biased und dadurch diskriminierend. Foto © pixabay – Gerd Altmann

Die „hochrangige Expert*innengruppe für Künstliche Intelligenz“ der Europäischen Kommission hat im Jahr 2018 „Ethik-Leitlinien für eine vertrauenswürdige KI“ herausgegeben: „Die KI ist kein Selbstzweck“, sondern müsse im Dienste des Menschen stehen“, und diene dazu, dem „Wohlbefinden von Individuum und Gesellschaft und das Gemeinwohl zu steigern sowie zur Förderung von Fortschritt und Innovation beizutragen“.

Neue Technologien wie die Blockchain können auch gezielt dazu beitragen, diese Kriterien zu erfüllen und eine Dezentralisierung und mehr Transparenz bei Datenströmen zu ermöglichen.

Zugang zu digitalen Technologien & Skills

„Nicht jeder muss zum Digital Expert oder Data Scientist avancieren“, sagt Martin Giesswein. „Allerdings ist es wichtig, allen Menschen digitale Skills zu vermitteln, damit sie den Anschluss an die Digitalökonomie nicht verlieren. Gleichzeitig ist gerade für Führungskräfte das grundlegende Verständnis über digitale Methoden, digitale Geschäftsmodelle und digitaler Ethik – etwa der ethische Umgang mit User*innendaten oder den Einsatz einer fairen und nicht-diskrimierenden KI –  wesentlich“, sagt Barbara Stöttinger. Viel Potenzial liege brach: „Der Frauenanteil für IKT-Studienrichtungen liegt unter 20 Prozent“, so Stöttinger. Digitales Grundwissen sei aber für alle Bürger*innen sehr wichtig, um verantwortungsbewusste Entscheidungen zu treffen: „Viele von uns gehen sehr leichtfertig mit personenbezogenen Daten um und geben viel von sich auf Social Media preis – doch je besser sie digitale Mechanismen verstehen, desto eher können sie als mündige Bürger*innen agieren“, sagt Martin Giesswein. Das gelte auch für Unternehmer und Führungskräfte: „Gerade universitäre Einrichtungen und Business Schools haben die Aufgabe, für Aufklärung und Sensibilisierung zu sorgen – mit entsprechender Forschung und Lehre.“

Fazit:

Martin Giesswein und Barbara Stöttinger sehen viel Potenzial in den derzeitigen Entwicklungen: „Der Humanismus war immer schon ein gutes Instrument, um die Eskapaden des Kapitalismus im Zaum zu halten. Das gilt nun auch für den digitalen Humanismus und den Kapitalismus der Digitalökonomie.“ Daran will man auch an der WU Executive Academy verstärkt arbeiten – und den Führungskräften in den Weiterbildungen strategische Hilfestellungen und Checklisten für die Umsetzung digital-humanistischer Prinzipien mitgeben.

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