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Eine Utopie von Prof. Kathrin Köster und Helga Pattart-Drexler
Der Artikel ist in leicht gekürzter Form vor Kurzem in "der Standard" erschienen. Hannas Mutter holt ihre 4-jährige Tochter nach dem Mittagsschlaf im Kindergarten ab. Noch bevor sie ihr Kind in die Arme schließt, erhält sie bereits per „We-rate-your-kid-App“ die Tagesauswertung der Leistung ihrer Tochter. Leider hat Hanna an diesem Tag nicht brav gegessen. Und sie konnte nicht einschlafen. Und, weil sie sich seit kurzem nicht wohlfühlt, verhält sie sich in der Gruppe anders und bekam prompt von ihren KindergartenfreundInnen ein schlechteres Peer-Rating. Zum Leidwesen ihrer Eltern. Diese müssen nämlich jetzt höhere Kindergartenbeiträge zahlen, weil die Gebühren direkt an die Performance ihrer Tochter gekoppelt sind.
Heute bewerten wir tatsächlich schon fast alles. Nach dem Besuch der Flughafen-Toilette geben wir Auskunft über Hygienestandards und Klopapierbestand, wenn wir uns bei Mc Donald‘s unseren Burger maßanfertigen lassen, beurteilen wir die Servicequalität der MitarbeiterInnen und die Größe der verwendeten Gurkenscheiben, und auf Amazon und Zalando kaufen wir ohnehin nichts mehr, ohne dass wir uns die Bewertungen (vor allem die schlechten!) im Detail angesehen haben.
So hat die ständige, meist binäre Bewertung unseren Alltag durchdrungen und prägt unsere ‚Normalität’. Fragt sich noch jemand, was die Nebeneffekte eines solchen Denkens und Handelns sind? Ist es der Gesellschaft dienlich? Und was sind die Alternativen?
Eine Welt ohne die Kategorisierung „Geschafft oder Durchgefallen“. Wie wäre es, wenn wir das zum „System“ erheben? Wenn wir erkennen, wie stark unser Verstand ständig einordnet in ‚Schwarz oder Weiß’, ‚Nein oder Ja’, ‚Gut oder Schlecht’? Wenn wir aufhörten, uns selbst zu limitieren durch diese Kategorisierungen, die in unserer Gesellschaft wie das Amen dem Gebet folgen?
Wir alle sind uns einig: Offenheit, Flexibilität und Wertschätzung anderer sind wichtige Tugenden. Aber wenn es um die Umsetzung geht, ist das so eine Sache. Anerkennen wir wirklich immer das Gegenüber mit all seinen Facetten? Sind wir „anderem“ gegenüber wirklich immer offen und bejahend? Oder stecken wir schlicht und ergreifend zu sehr in unserer Sozialisierung fest?
Unsere Gesellschaft ist durchdrungen von Kategorisierungen, Vorurteilen und Glaubenssätzen. Und genau darum geht es in unserer Utopie: Begrenzte und begrenzende Muster zu überwinden.
Bereits in der Schule, an der Universität und später auch im Beruf sind wir ständig mit Bewertungen konfrontiert. Bewerten ist fast zu einem Teil unserer DNA geworden. Noten von 1 bis 5, die über unsere Leistung Auskunft geben; Ausleseverfahren und Zielvorgaben, die die Leistung der Mitarbeiter beurteilen. Die Eruierung von Schwächen gehört zur Methodik dieser Bewertungssysteme, die eines völlig außer Acht lassen: Unsere Talente und alles, was uns zutiefst begeistert. Wie konnte das passieren?
All diese Lern- und Bewertungssysteme orientieren sich an den Ideen großer Denker wie René Descartes, Francis Bacon oder Isaac Newton, deren Gedankengut auf dem Erkennen und der Vermittlung objektiver Fakten beruht. Das Ziel ist es, die Dinge in ihre Einzelteile zu zerlegen und somit zu einem besseren Verständnis der Umwelt zu gelangen. Es geht nicht um das Eingehen auf individuelle Fähigkeiten und Bedürfnisse, die schwer zu begreifen – und somit einzuordnen - sind. Die Trennung zwischen „Persönlichem“ und „Sachlichem“ führt dazu, dass Lernen in einem Kontext stattfindet, der an industrielle Produktionsstätten erinnert. Menschen als Human-Ressourcen, die man möglichst passgenau für eine bestimmte Aufgabe auszubilden versucht. Lehrende sind „kompetente Analyse-ExpertInnen“, die das vermitteln, was durch Lehrpläne, Studienprüfungsordnungen und anderen Vorgaben gerahmt wird. Diese maschinenartige Spezialisten-Atmosphäre wird flankiert durch Prüfungs- und Leistungsdruck: also Bewertungen.
Genormte Menschen verlassen diese Lernsysteme, um in ihrem Leben das Beste aus dem Erlernten zu machen. Ganz im Sinne eines industriellen Systems fokussiert das Lernen auf die Heranbildung von ‚Human Doings’ oder Human-Ressourcen, die Wissen zielgerichtet anwenden. Wir sehen den Menschen nicht als ‚Human Source’, als unerschöpfliche Quelle von Kreativität und Innovation.
Wir alle befinden uns inmitten eines gigantischen Umbruchs, der verschiedene Namen trägt wie das ‚Zeitalter des Bewusstseins’ oder das ‚Kreativzeitalter’. Jeder kennt die Symptome dieses Umbruchs: Die Welt ist VUCA. Was heute gilt, ist morgen mit großer Wahrscheinlichkeit anders. Eine Umweltkrise und politische Krise jagt die andere. Die einzige Konstante ist die ständige Veränderung, die sich mit großer Dynamik vollzieht. Diese neue Ära erfordert eine neue Art des Lernens, die weit über die starren Grenzen des traditionellen Bildungssystems hinausgeht. Die Öffnung und Flexibilisierung ist nicht mit mehr Interdisziplinarität, Transdisziplinarität und Allgemeinbildung im Sinne eines Studium Generale getan. Es braucht mehr!
-> Der Weg führt von einer wissensbasierten Bildung hinzu einem weisheitsbildenden Ansatz.
Im Zentrum dieses Ansatzes steht das Individuum als Ganzes, das als Einheit von Körper, Geist und Gefühl betrachtet wird und sich in seiner gesamten Vielschichtigkeit entwickeln soll.
Ziel ist es, den Menschen im Sinne von ‚Human Source’ dazu zu befähigen, alle seine Potenziale, die ihm zur Verfügung stehen, zu erkennen und zu nutzen. Dabei liegt der Fokus nicht nur auf dem Bekannten, das in Form von Wissen vermittelt wird, sondern insbesondere auch auf dem Unbekannten, das zunächst unvorstellbar erscheinen mag. Das erfordert wirkliche Offenheit im Denken und Handeln.
Was es also braucht, sind neue Wege, die dem weisheitsbildenden Ansatz dienlich sind. Lernen braucht viel Raum, eine White Box, in der die Grenzen nicht definiert sind und keine Bewertung stattfindet. Den Rahmen dieses Lern-Raums bildet die Anerkennung der Bedürfnisse aller Lebewesen einschließlich die der Umwelt, was die Grundwerte aller Weltphilosophien vermitteln. Ein Lern-Raum, der all das zulässt, was wir benötigen, um uns weiterzuentwickeln. Ein Lern-Raum, der nicht nur auf die Wissensvermittlung ausgerichtet ist. Dabei nähern wir uns einer konstruktivistischen Sichtweise, die Lernen nicht als Aufnahme, Einprägung und Übernahme von inhaltlichen Inputs ansieht, sondern die Stärken, die Talente und die Qualitäten, die Menschen mitbringen, in den Vordergrund rückt und auf individuellen Erfahrungen aufbaut.
Warten wir nun darauf, dass sich irgendwann die Bildungssysteme ändern, oder fängt jeder schon einmal bei sich selbst an? Das Machtvolle am Lernen ist: Es ist ein individueller Prozess. Jeder kann es ständig tun. Es reicht aus, sich dafür zu entscheiden. Entscheiden wir uns dafür, aufzuhören mit den ständigen Kategorisierungen? Setzen wir uns über die bestehenden, allgemein als normal und gültig anerkannten Bewertungen, die unsere Normalität prägen, hinweg? Anerkennen und bejahen wir, was jeder einzelne von uns mitbringt, und gestalten ein inspirierendes Miteinander? Dann wird Utopie zur Realität.
Geben wir der Neugierde Raum. Neue Ansätze und innovative Lösungen kann jeder von uns schon im Kleinen ausprobieren und gemäß ‚Trial and Error’ selbst sehen, was passiert. Was passiert, wenn Sie das Experiment wagen und heute die Kategorisierung, das Liken vs. Disliken, das Bewerten und „Schubladisieren“ stoppen? Reflektieren Sie über Ihre neuen Erfahrungen. Begegnen Sie offen dem, was auf Sie zukommt. So einfach geht Innovation. Dieser offene Prozess führt zur Selbsterkenntnis. Er führt dazu, dass sich die Menschen mehr trauen und zutrauen, und täglich neue Perspektiven entdecken...