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Warum die Kunst des Loslassens so viel bewirken kann - privat wie beruflich
Wenn es rundherum zu viel wird, kann die Kunst des bewussten Verzichts und des Loslassens hilfreich sein – ein Grundsatz, der im Übrigen nicht nur auf den menschlichen Körper zutrifft: Was bei der Reinigung und Erneuerung von Zellen, der sogenannten Autophagie, funktioniert, wenn man es richtig angeht, funktioniert auch in Unternehmen. Führungskräftecoach und Bestseller-Autorin Nathalie Karré und Konrad Holleis, Head of Executive Education der WU Executive Academy, haben sich angesehen, wovon sich Führungskräfte des 21. Jahrhunderts besser trennen sollten, um diesen Effekt im beruflichen Umfeld optimal zu nutzen und so für eine Zellerneuerung im Unternehmen zu sorgen.
Wir werden überflutet: von Reizen, schlechten Nachrichten, Workload und Fremderwartungen. Gerade Führungskräfte sind derzeit an vielen Fronten gleichzeitig gefordert: Corona-Krise, Home Office, ein Wandel bei den Arbeitsprozessen und im Führungsverständnis, neue technologische Anforderungen und dazu kommt noch das Tagesgeschäft mit Quartalszielen und ein enormer Erfolgsdruck. Was übrig bleibt, ist häufig das Gefühl, alles irgendwie schaffen zu müssen. Die Lösung liegt hier paradoxerweise im Weniger und nicht im Mehr – also im bewussten Verzicht im Denken, Sagen und Tun: „Wir haben oft die Angst, dass, wenn wir auf etwas verzichten, uns etwas verloren geht“, sagt Konrad Holleis, Head of Executive Education an der WU Executive Academy.
Dabei liegt im Verzicht immer ein Gewinn – an mehr Fokus, mehr Qualität im Tun, mehr Raum für neue Ideen, Lösungen und Beziehungen. Das bestätigt auch Nathalie Karré, Managing Partner von ACCELOR – the Transformation Company. Seit mehr als zwei Jahrzehnten begleitet sie Menschen und Organisationen in Veränderungs- und Entwicklungsprozessen, an der WU Executive Academy absolvierte sie den Executive MBA.
In ihrem Bestseller „Der Jungbrunnen-Effekt“ propagiert sie das 16-Stunden-Fasten: Durch Phasen der Enthaltsamkeit und des bewussten Verzichts (auf Essen) haben die Zellen im Körper die Möglichkeit, sich zu erneuern. Ähnlich können auch Führungskräfte in ihrem Unternehmen eine Zellauffrischung vorantreiben.
Nathalie Karré
In der Enthaltsamkeit beim Fasten oder Meditieren, erhält man mehr Klarheit, mehr Kraft und Energie, eine intensivere Wahrnehmung und damit auch ein besseres Selbstmanagement. Alles was man einschränkt, nimmt man danach verstärkt wahr. Dann setzt die Autophagie, die Abfallvernichtung und Reinigung ein: Der Körper verbrennt belastende Rückstände in den Zellen und repariert sie.
Ähnlich der Autophagie können Führungskräfte bei sich, in ihrem Team und im Unternehmen einen Reinigungsprozess in Gang setzen und so Raum und Kraft für Neues und mehr Qualität schaffen – wenn sie sich bewusst von Folgendem trennen:
Gerade in großen Unternehmen haben sich häufig Projekte, Prozesse und Strukturen angesammelt, die – manchmal aus innenpolitischen Gründen, manchmal aufgrund mangelnder Reflexionsfähigkeit – weiterverfolgt werden, obwohl sie niemand vermissen würde. Dabei binden sie Ressourcen, Arbeitszeit und Arbeitskraft. Das System mit zu vielen Projekten und Tools vollzustopfen, sorgt für Verzögerungen, Überforderungen, Ineffektivität und Frust im Team. „Energiefresser gemeinsam mit den eigenen Mitarbeiter*innen zu identifizieren und mal ordentlich zu entrümpeln, macht Raum, Zeit und Energie für neue Projekte und effektivere Abläufe frei“, sagt Konrad Holleis.
Gerade in traditionellen, sehr hierarchisch strukturierten Unternehmen würden Machtverhältnisse zementiert und die, die am lautesten schreien, mit dem Aufstieg belohnt. „In solchen Strukturen nutzen Menschen oft die Leistung, Ergebnisse und Netzwerke anderer zu ihrem Vorteil“, sagt Nathalie Karré. Dass einzelne Führungskräfte sich Lorbeeren für die Leistungen ihres Teams abholen, müsse der Vergangenheit angehören, meint auch Konrad Holleis. Sich mit lauter Mini-Mes zu umgeben, die das eigene Verhalten bestätigen, sei kontraproduktiv. „Führungskräfte sollten nach Mitarbeiter*innen Ausschau halten, die besser und anders sind als sie“, sagt Karré. Denn nicht der Vorteil für den Einzelnen zähle: „Erfolg setzt sich schließlich aus der Summe der Leistungen aller im Team zusammen.“ Wichtig sei laut Nathalie Karré, „sich zurückzunehmen und den Mitarbeiter*innen und ihren Meinungen Raum zu geben. Nur wenn sich die Potentiale aller entfalten können, wächst auch die gesamte Organisation.“ Das führe auch dazu, dass man „wirksam für andere wird, wie es Management-Vordenker Fredmund Malik schon lange propagiert“, so Holleis.
Oft sind Führungskräfte von ihren eigenen Glaubenssätzen geprägt. „Nicht selten werden Expert*innen zu Führungskräften befördert – wegen ihres ausgezeichneten Fachwissens, nicht aber wegen ihrer Führungskompetenz – trotzdem mit einem riesigen Hebel für zehn, 50, hundert Mitarbeiter*innen“, so Nathalie Karré. Sich zu verabschieden von althergebrachten Praktiken, sei unbedingt notwendig, wie etwa „der Ansatz, dass Führung schon irgendwie funktioniert und nicht wie jedes Handwerk gelernt werden muss - oder die Idee, als Führungskraft kein Feedback zu benötigen“, sagt Karré. Eine Führungskraft, die nie ehrliches Feedback erhält, könne kaum zu einer positiven Unternehmenskultur beitragen. „Führungskräfte müssen lernen, sich selbst ständig zu hinterfragen und zu reflektieren. Ich kann nur wachsen und mein Team mit mir, wenn wir uns die eigenen blinden Flecken regelmäßig ansehen“, sagt auch Konrad Holleis. „Leider sparen wir alle oft mit Lob und Anerkennung, aber auch Führungskräfte brauchen positives Feedback. Aber: Konstruktives Feedback zu geben und anzunehmen, will gelernt sein“, sagt sie.
Der Arbeitsalltag ist gerade für Führungskräfte fordernd. Mit Selbstmanagement und Emotionsregulierung können stressbedingte Disbalancen ausgeglichen werden. Dazu gehöre, Emotionen zwar anzuerkennen, sie aber nicht unkontrolliert an anderen Menschen auszulassen und sich bei überbordendem Stress ausgleichende, beruhigende Aktivitäten zu suchen. Neun von zehn erfolgreichen Top-Manager*innen würden meditieren, sagt Nathalie Karré. „Wer in sich selbst ruht und sein Leben in Balance hält – dazu gehören Arbeit, Freizeit, Familie, Gesundheit und Zeit für sich selbst – der kann auch anderen Entwicklungsräume erlauben“, sagt die Expertin. Wie gehe ich gut mit mir um und wie gehe ich gut mit anderen – mit Mitarbeiter*innen, Kooperationspartner*innen – um? „Im Coaching wird oft deutlich: viele Führungskräfte gehen mit sich selbst nicht gut um. Dabei zeigt sich in der Praxis ganz klar: Nur wer sich selbst gut führen kann, kann auch andere führen“, so Karré.
„Relax, nothing is under control.“ Dieser Spruch hat sich spätestens seit der Corona-Krise mehr als bewahrheitet. Kontrolle gibt zwar vermeintlich Sicherheit, ist in der Wirtschaft – und Gesellschaft – des 21. Jahrhunderts eine Illusion.
Konrad Holleis
Wir können uns nicht mehr für alles absichern, nicht mehr alle Faktoren in Entscheidungen einbeziehen und daher weder planen noch kontrollieren.
Mit schlechten Erfahrungen würde man auch dazu neigen, ähnliche Erfahrungen wieder zu vermeiden. Häufig haben Führungskräfte immer noch Angst vor einem Gesichtsverlust, wenn Fehler passieren. „Endlich stehen wir nun – paradoxerweise wegen Corona - vor der Situation, dass Unternehmen ihren Mitarbeiter*innen mehr vertrauen, allerdings wird nun reglementiert, wie der Heimarbeitsplatz genau auszusehen hat“, sagt Nathalie Karré, „Das ist absurd.“ Die Learnings aus der Corona-Zeit müssen konstruktiv in die gemeinsamen Arbeitsprozesse in Zukunft integriert werden.
Sich für alles verantwortlich fühlen und für die Mitarbeiter*innen entscheiden zu müssen, Expert*in für alles sein und alles wissen zu müssen: diese Glaubenssätze stammen noch aus Command & Control-Führungsmustern. „Es kann und muss auch nicht alles von Führungskräften abgedeckt werden“, sagt Konrad Holleis. Führungskräfte müssen heute zunehmend das große Ganze im Auge behalten: das Zusammenspiel des Teams, die strategische Ausrichtung, die Ziele des Projekts, der Abteilung, des Unternehmens. Micro-Management belastet und stresst nicht nur die Führungskraft, sondern auch die Beziehung zu den Mitarbeiter*innen. Verantwortung abzugeben wird also zur Notwendigkeit, um den Kopf für die Menschen- und Strategieführung freizuhaben. Eine Studie von Wayne Baker zeigt deutlich: Dort, wo Menschen andere ermutigen, Energie ins System hineinbringen und zielorientiert agieren, steckt die meiste Leistung in Unternehmen. „Solche Menschen arbeiten lösungsorientiert, bestärken andere, geben Feedback und stehen ein für etwas Größeres als sie selbst“, so Nathalie Karré. Genau so können Führungskräfte Mitarbeiter*innen dabei unterstützen, zu wachsen.
Leitbilder und auf Wänden gepinnte Werte-Gebote sind zwar nett, greifen aber zu kurz. „Sobald Werte in den Unternehmen tatsächlich auch gelebt werden, haben Führungskräfte eine gemeinsame Richtung und das Engagement der Mitarbeiter*innen steigt“, sagt Nathalie Karré, die als Consultant auch Unternehmen in ihrem Kulturprozess im Rahmen der „Great Place to Work“-Auszeichnung begleitet. Ergebnisse einer werteorientierten Kultur seien evident: „weniger Krankenstände, geringere Burnout-Raten, ein höheres EBIT und besser passende Bewerbungen auf offene Stellen.“ Führungskräfte seien hier als Umsetzer der Wertekultur gefragt – schließlich haben sie Vorbildfunktion.
Da sich Mitarbeiter*innenführung darauf konzentriert, dass Menschen sich entwickeln und entfalten können und Eigenverantwortung übernehmen, müssen Führungskräfte auch lernen, situativ zu führen. „Jeder Mensch ist anders. Manche benötigen mehr Freiraum und entscheiden gern selbst, andere brauchen mehr Führung und Struktur“, so Konrad Holleis. Nach dem Gießkannenprinzip alle gleich zu führen, sei wenig sinnvoll und sogar kontraproduktiv. Sich mit der Persönlichkeit der Mitarbeiter*innen auseinanderzusetzen, sei eine der wichtigsten Führungsaufgaben überhaupt, sagt Nathalie Karré.
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